Das Konzept und Leitthema des Festival Maribor 2014

GESTOHLEN?

Wer kann Musik besitzen? Und unter welchen Bedingungen kann ein Musikstück oder -thema entwendet werden? Das sind die Grundfragen, die zustande kommen, wenn vom Ausleihen, Anpassen, Beeinflussen, Inspirieren oder von bloßem Musikdiebstahl die Rede ist; vom Barockzeitalter bis zum 21. Jahrhundert, von klassischer Musik bis hin zum Jazz, Rock, Pop und elektronischer Musik. Im Barockzeitalter haben Bach, Händel und andere berühmte Künstler fast routinemäßig ihre eigene Musik wieder verwertet oder sie fast gewissenlos von anderen gestohlen. Es gibt Beweise dafür, dass auch Mozart als Komponist nicht dermaßen originell war wie von vielen behauptet wird; in der Zeit haben sich Musiker zwischen einander als Mitarbeiter und Partner im Rahmen von Musik- und Theatergemeinschaften Musik geliehen, da sie oft von Eintrittskartenverkauf abhängig waren. In klassischer Musik ist es auch nicht ungewöhnlich, wenn sich Komponisten gegenseitig zitieren und dabei uralte Sequenzen verwenden, wie das 'Dies Irae' (Symphonie Fantastique von Berlioz) oder die Choralen von Bach (vom Barockzeitalter bis heute oft verwendet). Beethoven (sowie zahlreiche andere nach seiner Zeit) nahm in seiner Klaviersonate Op. 28, den 'Canon' von Pachelbel in Anspruch. Strauss lieh sich 50 Themen der Oper 'Cassandra' von Vittorio Gnecchi für seine 'Elektra' aus, wobei er Gnecchi eher verspottete anstatt ihm damit Ehre zu erweisen. Die berühmten Volkslieder, wie die weltbekannte osteuropäische Melodie, die zum ersten Mal im musikalischen Werk ´Die Moldau´ von Bedřich Smetana erschien, wurden sehr rasch in die dominante europäische klassische Musik integriert. Außerordentliche Komponisten, wie Antonín Dvořák, Zoltán Kodály und Béla Bartók haben sich sehr bemüht alle Variationen der europäischen volkstümlichen Musik zu sammeln und aufzuzeichnen. Gute Beispiele dieser Bemühungen sind populäre Suiten ungarischer Tänze von Dvořák und Brahms.

Der selbsternannte Kleptomane und Genie, Igor Strawinsky, der fast jede Komposition in hohe Kunst verwandeln konnte, borgte von Rimsky-Korsakov und Debussy (der auch selbst vieles von Mussorgski übernahm), wie auch mit einem Ragtime-Tanz in seiner 'Geschichte vom Soldaten'. Schostakowitsch kommentierte auf die allgemeine Problematik des Musik-Diebstahls mit der sehr allbekannten Melodie von "We Wish You a Merry Christmas" in seinem Präludium Nr. 15.

Visuelle, Klang- und Wortcollagen wurden vor allem im 20. Jahrhundert mit Futurismus, Kubismus, Dadaismus, 'musique concrete', Situationismus, Pop Art, usw. populär. Diese Collage und als Schlussfolgerung die Aneignung von Musik, könnten als Hauptkunstform des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden, wobei die Popularität im 21. Jahrhundert nur angestiegen ist.

Blues und Jazz Musiker werden bereits seit Jahren von der sogenannten Open Source Kultur, wo sie bestehende melodische Fragmente und musikalische Umrahmungen frei umarbeiten dürfen, unterstützt. Die neusten Techniken ermöglichen, dass die Musiker einen Ton buchstäblich nachahmen können, anstatt nur eine Angleichung zu verschaffen.

Als Bob Dylan im Jahre 2012 Anschuldigungen wegen Diebstahl des geistigen Eigentums bestritt, sagte er: "Das ist eine sehr alte Geschichte, die Teil der Tradition ist. Sie hat eine lange Vergangenheit." Ihm stimmte auch B. B. King zu und sagte: "Ich bin der Auffassung, dass niemand stiehlt, wir leihen es alle nur aus."

In den 70er Jahren rekonstruierten King Tuby und Lee "Scratch" Perry Musik aus Tonträgern mit primitiver Ausrüstung aus der Zeit vor der Digitalen Ära. Die entstandenen Produkte nannten sie "Versionen". Die Art der Produktion verbreitete sich sehr schnell unter DJs in New York und London. Mit der steigenden Popularität von Disko und Hip-Hop-Musik, sowie elektronischer Tanzmusik, wurde die transformative Aneignung von Musik das wichtigste Werkzeug der heutigen Komponisten und Musikschriftsteller.

Heutzutage sind wir mit einem endlosen, unüberschaubaren, oft latenten und verschwommenen Prozess konfrontiert, der unbegrenzte Mengen von Musik produziert, wobei kein Musiker die Verbindungen und Beeinflussungen unterschiedlicher Musikrichtungen leugnen kann. Alle Musikrichtungen beinhalten gewisse Muster und darum verläuft stets und ununterbrochen auch der Austausch der musikalischen Ideen.

Als Teil des zwischenkulturellen Austausches und Kommunikation, untersuchen die Anthropologen bereits seit einer Weile die Prozesse der Aneignung und Ausleihung in Musik. Es stellt sich jedoch das Problem, wenn alle Musikrichtungen auf dieselbe Art und Weise behandelt werden, kommt es zu einem Schmelztiegel-Effekt, der allen Musikrichtungen nicht unbedingt gerecht ist.

Der kontroverse Musikologe Theodor Adorno ist der Meinung, dass in der populären Musik sehr viele Plagiate zu finden sind: die Unterschiede im musikalischen Material sind lediglich in der Gestalt zu suchen, wobei der Inhalt im Vergleich zur klassischen und Kunstmusik sehr spärlich vorkommt. Darum müssen auch Bestimmungen zu Urheberrechten unter die Lupe genommen werden. Das Urheberrechtsgesetz lässt nämlich auch Geschichten wie jene von Mike Batt zu, der 2002 ein Album veröffentlichte, das zwischen einzelnen Musikstücken eine Minute Stille beinhaltete. Diese Stille benannte er 'A One Minute of Silence" und nannte als Autoren sich selbst und John Cage, um die berühmte Stille von Cage mit dem Titel 4'33'' zu Ehren. Deswegen wurde er mit Urheberrechtsverletzung beschuldigt und Geldbuße verhängt.

Das Konzept GESTOHLEN? bring jedoch nicht nur eine Herausforderung ins Spiel, sondern auch neue Fragen und einen Dialog zum Thema Kunstfreiheit aus der Sicht der Urheberrechte. Dies und mehr wird im Rahmen des Begleitprogramms des Festival Maribor 2014 durchgeführt.

Die meisten Künstler entdecken ihre Berufung, wenn sie einen großartigen Musiker hören oder sehen. Das heißt, dass die meisten Künstler durch ihre eigenen Entdeckungen zu Kunst gebracht werden. Was bedeutet aber, dass jemand "seine eigene Sprache wiederfindet"? Hat sich diese Person von allen Einflüssen befreit? Mit diesem Thema beschäftigte sich auch Jonathan Lethem, der über Inspiration und Innovation schrieb und zu den nächsten Schlussfolgerungen gekommen ist: ´Inspiration könnte mit der Einatmung der Erinnerung an ein Ereignis, das nie passierte, verglichen werden.´ An gleicher Stelle muss man aber auch sagen, dass eine künstlerische Kreation nicht aus Nichts geschaffen wird, sondern aus Chaos.

Kurz gesagt – bei der Kreativität geht es vor allem um Chaos und mit dem Leitthema des Festivals mit dem Titel GESTOHLEN? wird sich kreatives Chaos mit unterschiedlichen Formen und Musikrichtungen verschmelzen.

Der musikalische dramaturgische Bogen wird daher einiges beinhalten – vom Ausleihen in der klassischen Musik bis hin zu postmodernen musikalischen Verarbeitungen und elektronischer Musik. Das Festival wird von der Weltmusikliteratur beeinflusst, besondere Aufmerksamkeit wird aber auch der slowenischen Kreativität gewidmet.

In dem Sinne schließen wir mit dem berühmten Zitat von Pablo Casals:

´Wir dürfen nicht vergessen, dass die größten Komponisten auch die größten Diebe waren. Sie haben von allen und überall gestohlen.´